Tintenfasspreis 2022
Prof. em. Dr. Hans-Ulrich Grunder
Laudatio über den Text
von Antonietta Cammareri
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Worum geht es in diesem Text?
Er umkreist einen Sachverhalt, der vor hundert Jahren die Schule bewegt hat. Bis heute ist die Frage noch aktuell, oft anders akzentuiert als früher.
Antonietta Cammareri hat das Thema in ihrer Bachelorarbeit ausgeleuchtet. Sie erörtert es für den Kindergarten und die Grundschule im Kanton Tessin. Detailliert erkundet sie die Mikrogeschichten der Outdoor Education, der Schule im Freien. Diesen Text hat sie bei Tintenfass, dem Schweizerischen Preis für Bildungsgeschichte, eingereicht. Heute vergeben wir den Preis für 2022. Nach 2020 und 2021 ist es das dritte Mal. Die neue Ausschreibung, für Tintenfass 2023, läuft bis Ende August.
Wie Antonietta Cammareri inhaltlich vorgeht, muss ich Ihnen zuerst erläutern (a). Sie sollen wissen, was sie recherchiert hat und worüber sie schreibt. Dann begründe ich, weshalb die Jury ihren Text als preiswürdig eingestuft hat (b).
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a) Also: Was heisst Outdoor Education im Kindergarten, der Scuola dell’infanzia?
«Kindergarten und Schule ins Freie»: So lautet anfangs des 20. Jahrhunderts die Alternative zum vielgescholtenen Schulstubenunterricht. Der Vorwurf an die Schule ist dramatisch: Das Schulhaus ist zu eng, zu staubig, zu dunkel und ohne frische Luft. Es fördert die Langeweile. Es ist lernfeindlich. Der Unterricht draussen dagegen ist freier, gesünder, naturnäher und lerneffizienter.
Die damaligen Schulreformer und -reformerinnen engagierten sich für eine Öffnung von Kindergarten und Schule. Die Idee eines Pädagogischen Naturalismus war da schon lange bekannt. Aber Vittorino da Feltre, Comenius, Pestalozzi, Rousseau, Froebel und die euphorisierten pädagogischen Neuerer in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts wollten mehr als frische Luft und Natur.
Sie verlangten für das Kind eine vertiefte ästhetische, geistige und körperliche Erkenntnis – eine Erkenntnis über alles Sehen, alles oberflächliche Anschauen hinaus. Darum sollte das Kind eigene Erfahrungen in der Natur machen können. Nicht zuletzt sollte es sich auch körperlich abhärten. Die Hoffnung: So würde sich die kindliche Persönlichkeit harmonisch entwickeln. Draussen würde die Neugier ohne den Einfluss der Erwachsenen geweckt – auf Exkursionen, Wanderungen und Erkundungen, bei Befragungen und eigenständigen Recherchen. Die Neugier und die Lernmotivation würden gestärkt. Die kindliche Autonomie würde wachsen.
Genau das hatten viele Mediziner zu Jahrhundertbeginn an Hygienekongressen und in zahlreichen Publikationen verlangt. Montessori, Decroly, Bovet oder Claparède sorgten sich um die kindliche Gesundheit. Die Programmatik: Verlagert den Unterricht nach draussen, ins Freie, ans Licht – in eine Waldschule (Berlin), eine Ecole au soleil(Leysin), in Freiluftschulen (Zürich) oder in Ferienkolonien (Appenzell). Der Genfer Adolphe Ferrière verstärkte 1922 das Argument – auch in der Angst um die Tuberkulosegefahr –, am ersten ‘Congresso internazionale delle scuole all’ aperto’ in Paris: Freiluftschulen und aktive Schule (scuola attiva) sind die Wortführerinnen einer ‘neuen Erziehung’, einer ‘modernen Erziehung’ für das 20. Jahrhundert. In den späten sechziger Jahren sollten vergleichbare Impulse noch einmal aufflammen. Sie haben sich in mannigfaltigen Ausprägungen bis heute gehalten.
Was bedeutet dieser international starke Impuls zugunsten einer Schule im Freien für den Kindergarten und die Schule in der italienischsprachigen Schweiz?
Schon das kantonale Schulprogramm für Kinderheime von 1897 (‘Programma didattico per gli asili infantili della Repubblica e Cantone del Ticino’) votiert gegen den unbeweglichen Unterricht an starren Pulten und in stickigen Klassenräumen. Im Fokus: das Stillsitzen in einer ‘Buchschule’.
Bücherwissen wird harsch kritisiert. Es gilt als oberflächlich und unanschaulich. Darum soll der Unterricht auch stattfinden: im Wald und auf der Wiese, auf Bauernhöfen, in Betrieben, in Schulgärten, auf Lehrausgängen, Wanderungen und Schulreisen.
Überdies: Die Idee einer Ferienkolonie war um 1876 vom Appenzeller Pfarrer Walter Bion erstmals mit Kindern aus der Stadt Zürich umgesetzt worden. Nach dem Grippewinter von 1919 sollten sich auch in Lugano Kinder und Jugendliche in Sommerkolonien (‘Colonie Climatiche estive’) erholen.
Der Blick auf den Süden der Schweiz zeigt: Die Tessiner Montessorianerinnen Teresina Bontempi, Maria Valli und Maria Boschetti-Alberti konkretisierten in den 1920er Jahren das Konzept. Sie verlangten Freiluftkindergärten, Unterricht an der frischen Luft und Lehrausgänge. Für Maria Boschetti-Alberti sollte die Schule eine ‘scuola serena’, eine heitere Schule, sein.
Die Balance zwischen Aktivität und dem Bedürfnis nach Ruhe war diesen Lehrerinnen wichtig. Darum lancierten sie die Forderung, sie Kinder sollten sich im Freien ausruhen, einen ‘Riposo all’ aperto’.
Nach 1945 wurde der Ruf nach Freiluftschulen auch im Tessin leiser. Die Schulgesetze der folgenden Jahrzehnte und die Leitlinien (‘Orientamenti programmatici’) für die Kindergärten (ab 2000) verweisen allerdings wieder auf die Programmatik: Das Erlebnis in der Natur, das Entdecken, das affektive und das lebensweltliche Lernen.
Der schulische Alltag soll ein Abenteuer sein («…il quotidiano come un’ avventura»). Und schliesslich: Zwar spricht der ‘Piano di studio della scuola del’obligo ticinese’ von 2015 in Bezug auf den Kindergarten nicht mehr vom Unterricht im Freien. Doch es geht auch dort um die Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins angesichts von gravierenden Umweltproblemen. Zentral ist einmal mehr das anzustrebende Gleichgewicht der körperlichen, geistigen und mentalen Kräfte eines Kindes – durchaus beim Lernen in der Natur.
Was hat die Jury an diesem Text beeindruckt?
b) Mehrere schulhistorisch aufschlussreiche Merkmale zeichnen den Ausschnitt aus Antonietta Cammareris Bachelorarbeit aus. Die Autorin schildert darin anhand von Sekundärliteratur die Entwicklung der Idee eines Unterrichts im Freien im Kanton Tessin im 20. Jahrhundert. Sie zeigt mit ihrer chronologischen Analyse vor einer internationalen Folie: Die Programmatik und die Praxis einer Schule im Freien verbindet in der Tessiner Schule die Vergangenheit und die Gegenwart.
Zu diesem Thema fehlen in der Schweiz bislang wissenschaftliche Beiträge. Darum kennen wir den Sachverhalt – gerade auch in der deutschsprachigen Schweiz – unzureichend.
Die Autorin beschreibt in ihrer bildungs- und schulhistorischen Analyse, wie das Konzept propagiert worden ist und wie es sich verbreitet hat. Sie verweist auf ein im 18. und 19. Jahrhundert gelegentlich skizziertes pädagogisches Dilemma: Rückt im Unterricht im Freien die frische Luft, die körperliche Gesundheit der Kinder, ihr aktives Tun und die Förderung der Naturliebe ins Zentrum, müssten sich die Didaktik und die Unterrichtsmethodik ändern. Das ruft nach einer ‘neuen Didaktik’. Man hat sie zu Beginn des 20. Jahrhundert als aktive Didaktik bezeichnet.
Was wir heute mit ‘neuen Arbeits- und Unterrichtsformen’ umschreiben, ergab sich damals zwingend aus der Programmatik einer Schule im Freien: die Partner-, Gruppen- und Projektarbeit, der Wochenplan und der Werkstattunterricht sowie Prozesse des entdeckenden Lernens.
Antonietta Cammareri hat diesen Text für Tintenfass 2022 im Kontext ihrer Ausbildung für das Lehramt an Vor- und Primarschulen an der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) in Locarno eingereicht. Die Jury hat den Aufsatz anonymisiert beurteilt. Sie hat ihn zum Siegertext erkoren.
Damit gewinnt die im Tessin unterrichtende Lehrerin den Schweizerischen Preis für Bildungsgeschichte 2022.
Die Jury, das sind Andrea Schweizer, Andrea Matter und Hans-Ulrich Grunder, verleiht Antonietta Cammareri für ihren Text
«MICROSTORIE DI OUTDOOR EDUCATION ALLA SCUOLA DELL’INFANZIA:
una pratica educativa che collega il passato e il presente della realtà scolastica ticinese»
Tintenfass, den Preis für schweizerische Bildungsgeschichte 2022 – das heisst: Die Urkunde, das Preisgeld und das ‘Kunstwerk’ als Geschenk.
Herzliche Gratulation!