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von Andrea Matter, erschienen in: EDUCATION "Lernräume gestalten", 3.23


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Gibt es in den künftigen Schulhäusern noch Klassenzimmer, oder verlagert sich der Unterricht an den Bildschirm am Küchentisch? Werden Kinder und Jugendliche den Unterricht noch in dem einen Schulhaus besuchen, oder findet Schule an verschiedenen Orten statt? Ein Überblick über die Schulhausgestaltung im Lauf der Zeit.


GESTERN

1850 –1900: Jedem Dorf sein eigenes Schulhaus

Durch die in den 1830er-Jahren erlassenen Schulgesetze wurde der Schulhausbau in vielen Kantonen zur zentralen Aufgabe. Sogar kleine Landgemeinden mussten Schulgebäude errichten, da zuvor oft in dunklen Räumen oder in Privatstuben unterrichtet wurde; dies war trotz staatlicher Hilfe finanziell anspruchsvoll. Einige Kantone boten Musterbaupläne an, andere kopierten und tauschten Baupläne aus. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts

wurde das Schulhaus zu einem repräsentativen Gebäude im Ortsbild, oft von regional bekannten Architekten entworfen.


1900 –1950: Licht, Luft und Raum

Die sozialen Reformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten bedeutende Veränderungen im Bildungssystem mit sich. Ärzte legten Standards fest, die ausreichenden «Luftraum» und ausreichendes Licht pro Kind sowie eine ergonomische Sitzhaltung gewährleisteten. Neben den herkömmlichen Schulhöfen wurde vermehrt Platz zur sportlichen Betätigung und freien Bewegung geschaffen. Bereits 1904 wurde auf dem 1. Internationalen Kongress für Schulhygiene in Nürnberg die Pavillonschule als innovatives Schulkonzept präsentiert. Die Gründung von Freiluft- und Waldschulen geht auf den Berliner Kinderarzt Adolf Baginsky zurück, der bereits 1881 die Idee einer Waldschule zur Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen vorbrachte. Ziel war es, die körperliche Fitness und das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler zu stärken.


1950-1980 – Durchbruch in der Moderne

Die Reformdiskussionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigten ihre volle Wirkung im Schulhausbau der Nachkriegszeit. Charakteristisch waren dabei Anlagen, die aus mehreren pavillonartigen Gebäudekuben bestanden, häufig auch in radikalen Entwürfen mit Backstein und rohem Beton als Gestaltungselemente. Dank der vielen Architekturwettbewerbe für Schulgebäude entstanden ab etwa 1955 sogar in ländlichen Gemeinden Anlagen von auffallender Modernität. Die Veränderungen spiegelten sich auch in der Einrichtung der Klassenzimmer wider. Schon in den 1930er-Jahren begann die Stadt Zürich, bewegliche Möbel anzuschaffen. Dennoch blieben in ländlichen Gebieten oft die traditionellen, festen Schulbänke bis in die 1960er-Jahre im Einsatz.


1980-2010 – Lernateliers und ausserschulische Lernorte

Zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde vermehrt Wert auf zusätzliche Räumlichkeiten für Gruppenunterricht, interdisziplinäre Projekte, Hort und Mittagstisch, Musikunterricht sowie die Schulleitung gelegt. Neue Unterrichtsformen haben den Bedarf an Raum beeinflusst. So wurden flexible Lernumgebungen mit unterschiedlich nutzbaren Räumen für Gruppenunterricht und Lernateliers bevorzugt. Parallel dazu gewannen ausserschulische Lernorte seit den 1990er-Jahren an Bedeutung. Bildungsnahe Institutionen erweiterten ihre pädagogischen Angebote und trugen somit zur Vielfalt des Lernraums bei.



HEUTE

Flure, an denen sich Klassenzimmer reihen, darin Stühle an Bänken in Reihen, vorne eine Tafel, irgendwo eine Turnhalle – die meisten Leserinnen und Leser werden ein Bild dieser Architektur vor Augen haben. In diese mischt sich immer mehr der Wunsch, verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden: Rückzugsmöglichkeiten, Platz für freie Bewegung, Treffpunkte, Arbeitsplätze mit zeitgemässer Infrastruktur, Spezialräume oder offene Lernlandschaften. Viel flexibler soll der Raum genutzt werden können, als Reihen aus Bänken es zulassen. Die Schule wird immer mehr als Raum zum Lernen, Arbeiten und Leben gesehen – drinnen wie draussen, für alle an der Schule.


«Bildung lebt von Beziehungen zwischen Menschen. Damit Beziehungen entstehen und sich entwickeln können, schaffen Pädagoginnen und Pädagogen Räume und Kontexte [...]. Die räumliche Umgebung – der Schulraum – ist eine wichtige Ressource ihrer täglichen Arbeit.»[1]


Was möglich ist, zeigen viele Schulneubauten, beispielsweise das 2007 erbaute Ørestad College in Kopenhagen. In der Praxis finden Pädagoginnen aber häufig einen gegebenen Raum vor, der baulich nicht zu verändern ist. Ist flexibles Mobiliar vorhanden, lässt sich das «Lernzimmer» – ein reizvollerer Begriff als jener des «Klassenzimmers» – einfach umgestalten. So können unterschiedliche Plätze geschaffen werden, welche die Schülerinnen und Schüler selbst mitgestalten und je nach Bedarf auswählen können. Es entsteht Raum für individuelles Arbeiten ebenso wie für gemeinschaftliches, am Tisch, am Boden oder im Kreis. Die Maxime «Alle machen zu jeder Zeit das Gleiche» ist damit vorbei. Ein eindrückliches Beispiel, wie das Mobiliar ein ganzes Schulhausklima verändern kann, sind die Lernwaben. Sie nutzen den Raum horizontal und bieten ein Gefühl von Privatsphäre, Geborgenheit und Ruhe, ohne dass ein Gefühl der Isolation auftritt.


Was passiert, wenn wir auch die Aussenmauern der Schule ausser Acht lassen?

Die «Draussenschule» der Schule Zeihen ist Teil ihres regulären Unterrichts; ein Vormittag pro Woche findet draussen statt, bei jedem Wetter. Dabei werden stets neue Lernräume und -möglichkeiten entdeckt: im Wald oder Dorf, in Landwirtschaftsbetrieben und der lokalen Wirtschaft. «Die Frage stellt sich, ob das Schulzimmer mit Tischen, Stühlen und Arbeitsblättern diesem Anspruch (immer) gerecht wird oder ob zeitgemässes und nachhaltiges Lernen nicht neue Orte braucht», so Daniel Jeseneg, ehemaliger Schulleiter der Volksschule. Die NZZ betitelte sie gar als «Schule der Zukunft»; das Schulzimmer abschaffen will Jeseneg dennoch nicht. Vielmehr sieht er Schule als eine Lernlandschaft aus sich ergänzenden Innen- und Aussenräumen, die durchaus das gesamte Stadtquartier oder Dorf einnehmen kann.


Übermorgen

Was die Zukunft bringt und braucht, das ist nur zum Teil vorauszusehen. Klar ist, dass die physische Umgebung das Wohlbefinden beeinflusst; das gilt auch für den Schulraum, seine Innenräume wie dem Lernzimmer, den Toiletten, den Gängen, der Bibliothek und den Aussenräumen wie dem Pausenplatz, dem Quartier rundherum, dem Wald und vielen anderen Orten mehr.

Häufig können schon Kleinigkeiten einen grossen Effekt haben. Mehr als neue Schulhäuser sind mutige und interessierte Pädagogen, Pädagoginnen und Schulleitungen gefragt, denen

Vertrauen und Zeit geschenkt wird, um Raum zu gestalten. Indem sie gemeinsam mit den Lernenden einen Ort gestalten, der motiviert, können Kompetenzen gelehrt und gelernt werden, die wir heute benötigen, damit wir auch für morgen gewappnet sind.


[1] Bernhard Pulver im Vorwort der «Broschüre Schulraum gestalten» der Erziehungsdirektion des Kantons Bern (2015).



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In den letzten Monaten war in vielen Schweizer Medien von Schulnoten und deren Sinn oder Unsinn zu lesen. Philippe Wampfler, Deutschlehrer an der Kantonsschule Uetikon am See und Dozent für Fachdidaktik Deutsch sowie Autor mehrerer Bücher, u. a. «Eine Schule ohne Noten» (2021), sagte kürzlich dem Blick gegenüber:


Je länger ich als Lehrer arbeite, desto sicherer bin ich, dass die Abschaffung von Noten die Schweizer Schulen mit einem Schlag massiv verbessern würde. [...] Eine Schule ohne Noten ist eine Schule ohne Bewertung. Und eine Schule ohne Bewertung ist eine bessere Schule. [...] Der konsequente Verzicht auf Noten bedeutet auch einen Verzicht auf Selektion. [...] Könnten Schweizer Schülerinnen und Schüler bis zur 9. Klasse ohne Bewertungs- und Selektionsdruck lernen, entstünde eine Schule, die Kinder gern besuchen. Leistungsdruck erzeugt psychische Krankheiten und Mobbing. Hier wäre die Stellschraube, um viele Veränderungen anzustossen. (Zum Artikel)

Auch die Stiftung Mercator Schweiz beschäftigt sich aktiv mit dem Thema und veröffentlicht viele aufschlussreiche Artikel zum Thema, etwa im Mai 2023, wo folgende Erkenntnisse von Bildungsforscher:innen nachzulesen sind:


Erstens tun Noten ausgerechnet das nicht, was sie zu tun vorgeben: individuelle Leistung fair und zuverlässig messen. Stattdessen sind Noten hochgradig anfällig für Fehler, Vorurteile und Verzerrungen.
Zweitens können Noten erfolgreiches Lernen verhindern, weil sie die Eigenmotivation der Schülerinnen und Schüler abwürgen, sie zu Minimalismus und Opportunismus erziehen und vertieftem Nachdenken im Weg stehen.
Drittens sind Noten im Kern nicht mehr zu vereinbaren mit jener individuellen Förderung und Kompetenzorientierung, die der Lehrplan 21 vorsieht und die heutige Entwicklungspsychologie nahelegt. Denn Noten vergleichen ein Kind mit seinen Jahrgangsgenossen, statt seine individuelle Entwicklung zu spiegeln.

Über den Sinn und Unsinn von Schulnoten wird schon seit über hundert Jahre diskutiert und in der Presse berichtet. Ein Brief vom 18. Mai 1896 eines Landschullehrers erschien in der NZZ:


"Ein großer Teil der Lehrerschaft würde die Abschaffung der Schulzeugnisse als eine Erlösung von schwerem Drucke, namentlich auch moralischem Drucke begrüßen. [...] Man verfolgte dabei jedenfalls den Zweck, durch das Schulzeugnis die Eltern zu orientieren, zugleich auch das Kind zu stimulieren. […] Das Zeugnis gibt den Eltern kein zuverlässiges Bild, weil die Beurteilung eine durchaus ungleichartige ist und niemals eine gleichartige werden kann. An verschiedenen Schulanstalten, oft an der nämlichen Anstalt, wird von verschiedenen Lehrern mit ganz verschiedenem Maßstabe gemessen, sowohl das Betragen als der Fleiß und der Fortschritt. [...]

Die Zeugnisse sagen also den Eltern im Grunde nichts, wenn sie dieselben nicht mit andern vergleichen, wenn sie die Schule nie besuchen oder sich bei den Lehrern erkundigen. Darum fort mit den Schulzeugnissen auf jeder Schulstufe, je eher, je lieber."


Auch 1932 lass man in der NZZ: "Ueber den Wert oder Unwert der Schulzeugnisse wird in den letzten Jahren in pädagogischen Kreisen viel diskutiert. Die ganze Problematik der Notengebung wird dabei aufgeworfen. […] Hier nun kann eines nicht genug betont werden: die Noten haben nicht nur den Stand des Fleißes und des Fortschrittes statistisch aufzuzeigen, sondern den Schüler zugleich anzuspornen, seine Kräfte aufs beste entfalten zu helfen. Sie haben eine sehr wesentliche erzieherische Mission. Aber gerade in dieser Hinsicht setzt eine berechtigte Kritik der Notengebung in der Form der üblichen Zahlennoten ein. […] Die Folge wird sein: Depression, Gefühl, ungerecht taxiert zu werden usw. [...]

Für Leben und Beruf wichtigste Eigenschaften, wie z. B. Kameradschaftlichkeit, Gemeinschastsgeist, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeitsbewußtsein, Aufrichtigkeit, Selbständigkeit, Initiative, Mut, Phantasie, bleiben größtenteils unberücksichtigt. […] Da kann es passieren, daß ein egoistischer, unkameradschaftlicher, rücksichtsloser Junge mit einem glänzenden Zeugnis nach Hause läuft, nur weil seine Gehirnganglien zur Aufnahme des schulmäßigen Wissens besser eingerichtet sind, wobei jedoch die Frage offen steht, ob neben der Fähigkeit bezüglich der Aufnahme des Schulwissens die viel wichtigere Fähigkeit zu selbständigem, originellem Denken vorhanden ist oder nicht. Das Leben hat schon bei manchem Menschen die Noten des Lehrers gründlich abgeändert.“


zum ganzen Artikel in der NZZ vom 16. Februar 1932




Auch 20 Jahre später schreibt man bereits vom Zeugnis als "Reliquie aus dem vorigen Jahrhundert" und 1986 titelt das "wir Brückenbauer", das Wochenblatt des sozialen Kapitals – Organ des Migros-Genossenschafts-Bundes,

Bald Zeugnisse ohne Noten? Von einem «Glaubenskrieg», der unter Lehrern um die Notenzeugnisse entbrannt ist, sprechen Erziehungswissenschafter. Viele Lehrer verteidigen die Noten als Ansporn für den Schüler oder als Auswahlinstrument, andere Pädagogen hingegen möchten die Leistungen ihrer Schüler nicht nur in Zahlen fassen. Sie wünschen sich eine ganzheitlichere Beurteilung, eine, die den Schüler als Persönlichkeit ernst nimmt, eine, die auch soziales Verhalten und Kreativität berücksichtigt.

Vieles hat sich in den letzten 150 Jahre geändert. Einige Dinge aber scheinen fest eingefahren und sind offensichtlich schwer zu ändern. Nun drehen sich dadurch die Diskussionen auch im Kreis. Die Argumente gegen Noten sind 150 Jahre alt: wohl auf beiden Seiten. Es scheint sinnvoll, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, um daraus für heute und die Zukunft zu lernen. Auch im Bereich der Notengebung.





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AutorenbildAndrea

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